Pia meldet sich bei mir und berichtet, dass sie ein Kommunikationsproblem habe mit ihrem Chef und deswegen ein Coaching buchen möchte. In der Sitzung erläutert sie, dass sie einfach nicht wisse, wie sie ihm mitteilen soll, dass sie momentan zu viel Arbeit habe, ohne überfordert oder inkompetent zu wirken. Auch erzählt sie mir, dass sie immer auf Anerkennung von ihm hoffe, diese aber zu selten erhalte. Ich schlage vor, dass wir eine Systemaufstellung machen, um zu sehen und zu fühlen, welche Dynamik hier am Werk ist.
Die rationale Ebene der Systemaufstellungen
Bei Systemaufstellungen wird ein inneres Bild der Beziehungen von Personen (Familien, Beziehungen, Teams etc.) oder Elementen (Emotionen, Ziele, innere Anteile etc.) in eine räumliche Darstellung übersetzt. Dies geschieht im Einzelsetting über Figuren oder Bodenanker/Zettel (auf die der Aufsteller stehen kann), im Workshop-Setting durch menschliche Stellvertreter. Die Positionen, Entfernungen sowie Zu- oder Abgewandtheit drücken dabei die Beziehungsqualitäten aus.
Man sieht und fühlt also, was für ein inneres Bild man in sich trägt über ein bestimmtes System bzw. Thema: Wer/was steht am falschen Platz? Wer/was wird ausgeschlossen? Wer/was gehört zusammen? Wer/was blockiert wen/was? Teilweise reicht es vollkommen, eine bestimmte Dynamik überhaupt einmal zu sehen und fühlen, also ins Bewusstsein zu holen. Häufig nimmt man in diesem System aber auch Interventionen vor, so dass es sich geordneter oder harmonischer anfühlt, und dieses neue Bild ins Unterbewusstsein zurückgespiesen werden kann, um von dort aus weitere Wirkung zu entfalten.
Die mystische Ebene der Systemaufstellungen
Besonders in Aufstellungs-Workshops, in welchen fremde Personen, die nichts über einen wissen, die Positionen des eigenen Systems einnehmen, aber auch bei der Nutzung von Bodenankern/Zetteln im Einzelsetting, wo der/die Klient/in in die einzelnen Positionen steht, wird häufig noch eine weitere Ebene der Systemaufstellungen erfahrbar: Der Moment, in welchem eine Klientin eine wildfremde Frau als ihre Mutter aufstellt, und diese Formulierungen benutzt, als kämen sie aus dem Mund der bereits verstorbenen Mutter der Klientin. Oder die Situation, in welcher ein Stellvertreter in einer Rolle Rückenschmerzen bekommt und die Aufstellerin im Nachhinein bestätigt, dass die Person, für welche er steht, tatsächlich ein Rückenleiden hat. Es ist diese magisch anmutende Ebene, die Zugang geben kann zu Wissen, welches wir über den Verstand kaum begreifen können.
Bert Hellinger, der Begründer der Familienaufstellung, nennt es einfach „wissendes Feld“, andere „non lokale Effekte“ und Rupert Sheldrake „morphogenetische Felder“. Sheldrake stellt die These auf, dass Systeme durch unsichtbar organisierende Informationsfelder reguliert werden. Ich sage zu meinen Klienten jeweils: „Egal, wie wir es nennen, oder wie es genau funktioniert: wir leben offensichtlich in einem Feld von Informationen, die jederzeit abrufbar sind und in Systemaufstellungen durch die Absicht die wir setzen, zugänglich und veränderbar werden“.
Mentale, körperliche und emotionale Lösungen
Auch wenn die Effekte von Familienaufstellungen und anderen Systemaufstellungen wissenschaftlich nicht abschliessend begründbar sind, ist es verblüffend, dass man nicht daran glauben muss, damit es funktioniert. Wenn man mit etwas Neugier und Offenheit eine Systemaufstellung angeht, funktioniert es bei jedem. Im Minimum erkennt man mental bzw. visuell, was für eine grundsätzliche Dynamik sich abzeichnet. Viele Aufstellende spüren über die Körperwahrnehmung, wo es hakt oder was es zu verändern gibt: „Jetzt wird es schwer“, „mich zieht es in diese Richtung“, „hier stehe ich instabil“. Bei vielen kommen Emotionen zum Vorschein, die unterdrückt oder blockiert waren, und die zugelassen werden dürfen und sollen, um dann auch eine Veränderung des Systems zu ermöglichen – z.B. eine Trauer, die zugelassen wird, um einen alten Schmerz zu heilen.
Pia löst die Übertragungsdynamik Vater-Chef auf
Auch bei Pia ist ein alter Schmerz am Werk, der allerdings nichts mit ihrem Vorgesetzten an sich zu tun hatte. Ich will sie zuerst nur sich selbst und den Chef aufstellen lassen und dann im Verlauf allenfalls weitere Faktoren hinzunehmen. Als ich erwähne, dass es möglich sei, dass eine Übertragung bzw. Projektion im Spiel sein könnte, bei welcher sie im Chef den Vater sieht, kommen ihr gleich die Tränen. Somit lasse ich Pia den Vater – er schon lange gestorben ist – auch ins Anfangsbild stellen.
Sie stellt sich selbst frontal zu ihrem Chef auf, der Vater steht schräg hinter ihm. Wenn sie von ihrer Position zur Vorgesetzten-Position schaut, spürt sie, wie im Hintergrund der Vater wirkt. Ich lasse Pia zuerst selbst in die Vater-Position stehen, um zu fühlen, wie seine eigene Kindheit gewesen sein muss, dass er eben so mit ihr umging, wie er es tat. Dann lasse ich sie gegenüber der Vater-Position alles aussprechen, was eine emotionale Lösung ermöglicht: Formulieren ihrer Enttäuschung ihm gegenüber, Loslassen des inneren Anspruchs, dass er es „besser können hätte“, Aussprechen dessen, dass sie nun Erwachsen ist, selbst die Verantwortung für sich und ihre Selbstbestätigung übernimmt. Nach vielen Tränen fühlt sie diese Sätze des Loslassens und Vergebens auch tief in ihrem Körper.
Als sie sich nachher wieder dem Chef-Bodenanker zuwendet, merkt sie, dass sie da nun nicht mehr nach väterlicher Bestätigung sucht. In diesem befreiten Zustand besprechen wir, welche Kommunikation ihm gegenüber sie nicht überfordert, sondern proaktiv erscheinen lässt. Pia verlässt erleichtert meine Praxis. Einige Tage später schreibt sie mir: „Seit ich bei Dir war geht es mir super. Ich habe tatsächlich eine Strategie entwickelt und brauche im Moment nicht mal mit meinem Chef zu sprechen. Ich weiss was ich kann und was zuviel ist und grenze mich nun gut ab“.